Stellungnahme der SPD-Gemeinderatsfraktion Edingen-Neckarhausen durch den Fraktionsvorsitzenden Thomas Zachler in der öffentlichen Sitzung des Gemeinderats am Mittwoch, 24. Juni 2020 zur Umbenennung des Neckarwegs

Herr Bürgermeister, liebe Kolleginnen und Kollegen des Gemeinderats, verehrte Gäste!

Meine Damen und Herren!

In einem Gespräch im deutschen Fernsehen antwortete die deutsch-amerikanische Publizistin und Historikerin Hannah Arendt vor Jahrzehnten auf die Frage, was für sie vom Europa der Vorhitlerzeit geblieben sei: “Geblieben ist die Sprache.” Wir sitzen heute in der Eduard-Schläfer-Halle zusammen, um in unserer Sprache, die einmal die Sprache der Täter, der Verbrecher und Mörder war, mit Herrn Julius Helmstädter einem der Millionen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu gedenken, sein Wirken in unserer Gemeinde in Erinnerung zu rufen und um seine Vita, sein politisches Lebenswerk in Erinnerung zu behalten. Mit der Aufrufung dieses Tagesordnungspunktes, ein aus unserer Sicht zu einfaches Wort für die Bedeutung des Moments und der Begründung des Antrags durch die antragstellende Fraktion, erinnern und gedenken wir in diesen Minuten allen Opfern des Nationalsozialismus: Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, Opfer der Militärgerichtsbarkeit, Behinderte, Opfer der Euthanasie, Kriegsgefangene, politische Häftlinge, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Frauen und Männer des Widerstandes und alle anderen, die während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gequält und ermordet wurden.

Die Reihenfolge dieser Aufzählung stellt keine Wertung dar. Jedes Opfer hat das gleiche Recht auf Anerkennung und Würdigung. Unser Gedenken und die Erinnerung gilt allen, die unermessliches Leid erlitten, denen die Würde genommen wurde, die ihr Leben verloren. Und es gilt allen, die, auch wenn sie die infernalische Todesmaschinerie überlebt haben, doch an ihr zerbrochen sind: An dem zugefügten Schmerz, an dem Verlust des Glaubens an die Menschlichkeit, an der Unbeschreiblichkeit dessen, was geschehen ist. Wir erinnern heute an alle, die das nationalsozialistische Unrechtsregime zuerst entrechtete und dann quälte und ermordete. Aber wir erinnern heute auch besonders derer Personen, die sich ihren Unterdrückern trotz ihrer aussichtslosen Lage widersetzten.

Unser leider so früh verstorbenes Ortsvereinsmitglied Dr. Kurt Stenzel hat mit seiner umfangreichen Ausarbeitung über die Persönlichkeit Herrn Julius Helmstädter, die in mehreren Publkikationen nachzulesen ist, eindrucksvoll an ihn erinnert. Die Menschen, die Widerstand leisteten, wussten, dass sie äußerst geringe Chancen hatten. Sie gingen, wie es ehemals Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Thierse in seiner Ansprache zur Befreiung des KZ Auschwitz sehr emotional ausdrückte, sehenden Auges in den Tod, aber aufrecht und im Bewusstsein, sich bis zuletzt gewehrt und die Würde bewahrt zu haben. Die Täter ihrerseits hatten jedes Interesse daran, nicht nur das Leben der Widerstandskämpfer zu vernichten, sondern auch jede Erinnerung an sie und ihr Tun.

Bis heute fällt es uns schwer – wie sollte es auch anders sein -, uns dem Grauen unserer Geschichte zu stellen. So gut wir inzwischen die historischen Tatsachen kennen, so wenig sind wir imstande, das Geschehene zu begreifen. Wie konnte Politik in einem vormals demokratischen Staat, in unserem Land, dazu verkommen, die systematische Vernichtung ganzer Völker kaltblütig zu planen und mit organisatorischer Perfektion umzusetzen? Wie konnte es geschehen, dass Deutsche so erbarmungslos folterten und mordeten? Warum sahen so viele tatenlos zu? Auch in unserer Gemeinde gab es in der damaligen Zeit Übergriffe durch Einheimische auf hier im Ort lebende Edinger und Neckarhäuser, auf Schul- und Arbeitskollegen, Nachbarn, Sportkameraden und Sangesfreunde. Übergriffe, die die Würde des Menschen, die Meinungs- und Redefreiheit, die körperliche Unversehrtheit und die Gesundheit des Einzelnen zum Ziel ihrer Attacken hatten. Und es gab offensichtlich ebenso genügend Menschen, die diesem Treiben zusahen, dieses auch billigten. Und, es gibt für alles eine Steigerung, zum Vorbild für ihr eigenes Tun nahmen. Gerade weil wir uns die Brutalität der Täter und die Leiden der Opfer nicht vorstellen können – was Auschwitz, Buchenwald und Dachau wirklich war, das wissen nur die Häftlinge; die Ermordeten können es uns nicht sagen -, gerade deshalb müssen wir daran erinnern und gemeinsam immer neu nach einer Sprache gegen das Vergessen suchen.

Die verpflichtende Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen ist Teil unserer moralischen und politischen Identität. Unser Grundgesetz verpflichtet uns, die Würde des anderen, die Würde des Menschen, zum unbedingten Maßstab unseres Handelns zu machen. Es geht eben nicht nur um Vergangenheit, es geht nicht um richtige oder falsche Schuldzuweisungen, sondern um die aus der beschämenden Erinnerung erwachsende Verantwortung in der Gegenwart und für die Zukunft. Deswegen: Wegschauen, ignorieren, schweigen, all das dürfen wir Demokraten nicht! In den vergangenen Wochen erinnerten sich viele Menschen in unserem Land an das Ende des Krieges und an die Leiden des Krieges. Unsere nachdrückliche Bitte ist: Wir müssen verhindern, dass die Erinnerung an die deutschen Opfer und die Trauer über das Leid auch der Deutschen missbraucht wird für neonazistische Propaganda.

Es ist verständlich und legitim, mit Trauer an das eigene Leiden zu erinnern. Aber das darf niemals und nirgendwo dazu dienen, die Naziverbrechen zu relativieren und zu beschönigen! Dem zu widerstehen und zu widersprechen ist Sache aller anständigen Deutschen, aller Bürger. Dass Deutsch nie mehr die Sprache des Mordes, des Antisemitismus, der Menschenfeindlichkeit, der Lüge und des rassistischen Vorurteils wird – auch dazu verpflichten wir uns mit der heutigen Beratung und Beschlussfassung. Mit der Umbennung des Neckarwegs zur Erinnerung an einen aufrechten Demokraten und der Verlegung des Stolpersteins vor dem Wohnhaus Julius Helmstädters in der Edinger Hauptstraße gehen wir gemeinsam diesen Weg. Es sind erste Schritte auf einem richtigen Weg. (Thomas Zachler)