Der Zurückruderer

Vergangene Woche hat sich Tübingens Grüner OB Boris Palmer in einem TV-Interview gehörig in die sprichwörtlichen Nesseln gesetzt.

Seine Forderung nach einer Lockerung der Beschränkungen, die durch das Corona-Virus verursacht wurden, bekräftigte er mit der Aussage: „Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen. Aber die weltweiten Zerstörungen der Weltwirtschaft sorgen nach Einschätzung der UNO dafür, dass der daraus entstehende Armutsschock dieses Jahr eine Million Kinder zusätzlich das Leben kostet. Da sieht man: Es ist ein Medikament mit Nebenwirkungen, wir müssen es richtig dosieren.“

Dass man bei dem „Medikament“ der Beschränkungen des öffentlichen Lebens regelmäßig über die Dosis sprechen muss, ist alleine schon aufgrund der ständig neu zu bewertenden Situation nachvollziehbar. Das von Herrn Palmer hier betriebene gegeneinander Aufrechnen von Leben lässt hingegen die Frage aufkommen, ob manche Menschen nicht vielleicht doch einst zu heiß gebadet wurden. Abgesehen davon, dass auch in Deutschland laut RKI 14% der Corona-Todesopfer unter 70 sind und somit keineswegs fast ausschließlich „hochaltrig“: Sollen wir ältere Menschen mutwillig gefährden bzw. sterben lassen, damit der Alltag weitergeht? Das findet man höchstens so lange gut, bis die Krankheit die eigenen Eltern oder einen selbst trifft (mit besten Grüßen an Boris Johnson). Zumal Herr Palmer offenbar übersieht, dass auch die schweren Krankheitsverläufe nicht einfach tot umfallen, sondern intensivmedizinisch betreut werden müssen. Möchte er eine vermeidbare Belastung dieser medizinischen Kapazitäten verantworten? Oder sollen diese Fälle nach seiner Ansicht dann vielleicht gar nicht mehr versorgt werden, weil sie ja sowieso irgendwann sterben?

Zum Wochenende hat Boris Palmer freilich zurückgerudert – es sei gar nicht so gemeint, missverständliche Wortwahl, man müsse die Alten schützen, etc. Nun ist der Ansatz „schießen und dann entschuldigen“ in der Politik nicht unüblich – manchmal ernst gemeint, manchmal rein taktisch. Unseres Erachtens klafft jedoch ein Riesenunterschied zwischen einem einfachen Missverständnis und einer Aussage, die bei Umsetzung einem großen Teil der Bevölkerung das Recht auf (Weiter-)Leben streitig machen dürfte. Mit einem „sorry“ ist es da nicht getan – aber das müssen letztlich die Grünen entscheiden.

Eines noch: Es bestand Anfang des Jahres die Überlegung, Boris Palmer zur Vorstellung der Bürger-App nach Edingen-Neckarhausen einzuladen. Sehr geehrter Herr Bürgermeister Michler, uns scheint es angebracht, dieser Person in unserer Gemeinde keinerlei Plattform zu bieten und ihn auf einer Distanz zu halten, die den aktuellen Sicherheitsabstand deutlich übersteigt. (Patrick Hennrich)

UPDATE:

Die Einladung an Boris Palmer war seitens der Gemeinde bereits ausgesprochen und ein Termin festgesetzt. Wir haben daher gemeinsam mit diesem Artikel eine Anfrage an Bürgermeister Michler gestellt, die Einladung an Boris Palmer zurückzuziehen. Bürgermeister Michler teilte den Fraktionen kurz darauf mit, dass er unsere Ansicht teile und es keinen Auftritt von Boris Palmer in unserer Gemeinde geben werde.